„Pura Vida“ in Calbe
Einen Spitznamen hatte er sofort weg: „Schmidti“. Den bekam er von TSG-Trainer Ronald Kampe. Das klingt sehr deutsch, ist aber nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Denn Calbes Neuzugang Daniel Kaune-Schmidt ist Costa Ricaner.
Schwarze Haare, braune Augen, von der Statur her eher klein – so stellt man sich einen Mittelamerikaner vor. Doch Daniel sieht sehr europäisch aus – er ist blond, hat blaue Augen und ist groß. Mit 1,92 Meter sogar ziemlich groß. Das werden ihm seine deutschen Wurzeln vererbt haben. Daniels Großeltern waren Deutsche, seine Mutter ist Costa Ricanerin, der Vater Bolivianer. Als Baby lebte der heute 21-Jährige bereits mit seiner Familie für ein Jahr in Deutschland, 2010 verbrachte er fünf Monate an Schulen in Hamburg und Chemnitz und derzeit ist er für drei Jahre aufgrund seines Studiums in Magdeburg.
„Pura Vida“, was auf deutsch so viel wie „reines Leben“ bedeutet, repräsentiert in Costa Rica, einem kleinen Land in Mittelamerika, eine ganze Kultur. Es ist sozusagen die Lebenseinstellung der Ticos, den Einwohnern dieses Fleckens Erde zwischen Pazifik und Karibik, etwa 10 000 Kilometer von Calbe entfernt. Doch wie viel „Pura Vida“ steckt in Calbe? Daniel muss lächeln. „Hier steckt viel davon drin. Ich wurde sofort in die Gruppe integriert.“ Dabei ist er erst wenige Wochen bei der TSG. Zuvor spielte er in Magdeburg in der Sachsen-Anhalt-Liga, fühlte sich mit der Zeit aber unterfordert. Sein hehres Ziel – stärker werden, den Anspruch erhöhen. In Calbe trainiert der entspannte junge Mann, der ohne Hemmungen seine Lebensgeschichte erzählt, nun dreimal wöchentlich in der Mitteldeutschen Oberliga und bestreitet nahezu jedes Wochenende ein Spiel.
Zuhause, in dem Land der Strände, Berge, Vulkane und dem satten Grün, lebt Daniel in der Hauptstadt San José. Besucht hat er dort eine deutsche Schule. „Wir haben keine Armee. Viel Geld, das dadurch gespart wird, wird in die Bildung gesteckt. Verglichen mit den anderen Ländern in Lateinamerika ist Costa Rica fortschrittlich“, erklärt er. „Aber die Lebenshaltungskosten sind hoch.“
Das Schulsystem ist anders aufgebaut als hier. Der Kindergarten, die Grundschule (Klassen eins bis sechs) und die weiterführende Schule (Klassen sieben bis elf beziehungsweise zwölf) befinden sich auf einem gemeinsamen Areal. Die Schule, die Daniel besuchte, ist eine halb staatliche, halb private Einrichtung. Der Sportunterricht hat ihm immer Spaß bereitet. „Ich habe viel Basketball gespielt. Handball stand in Costa Rica vor ein paar Jahren noch ganz unten.“ Aber diese Sportart machte einen rasanten Sprung und wächst weiter. Von 600 Anhängern stieg das Interesse auf heute etwa 5000 Handballer an. Große Unterstützung kam dabei vom Internationalen Handball-Verband.
Auch Daniel fand seine Leidenschaft erst spät. In der elften Klasse, mit 17 Jahren, fing er ein intensives Training an. „Aber da es noch nicht viele gab, die Handball spielten, war es nicht so schwer, schnell aufzusteigen.“ Mit der Schulmannschaft fing Daniel an, dann spielte er zusätzlich für die größte Universität des Landes. Sein Trainingspensum schraubte sich sprichwörtlich von Null auf 100 nach oben, fünf bis sechsmal stand der Hüne nachmittags auf der Platte. „Aber das bereitete mir keine Probleme“, sagt er. Ein Schmunzeln breitet sich auf Daniels Gesicht aus, wenn er über die Vorteile spricht, bekannt im eigenen Land zu sein: „Es wäre cool, mal ein richtiges Vorbild für Kinder zu sein. Wenn man weiß, dass sie einen toll finden und mal genauso werden wollen.“ Im U 20-Team ging es für Daniel mit der Nationalmannschaft des Landes bereits bis Nicaragua und 2014 sogar zu den Zentralamerika- und Karibikspielen nach Mexiko. Für die Zukunft bleibt ein Wunschgegner: Argentinien.
Ein Semester lang studierte er zwar in San José BWL, doch der Traum von Deutschland verfolgte den reisefreudigen Tico. Mithilfe eines Nebenjobs in einem Call Center sparte er so viel Geld zusammen, dass er sich seinen Wunsch einer Ausbildung in seiner zweiten Heimat erfüllen konnte. Mit dem Bachelor-Studium Wirtschaftsingenieurwesen für Logistik fand er den für sich idealen Studiengang. Von Deutschland möchte er sich so viel wie nur möglich ansehen. Seine bisherigen Lieblingsstädte: Hamburg und München. Dass Daniel in Magdeburg gelandet ist, war Zufall. Auch wenn die ersten Wochen nach seiner Ankunft schwierig waren, heute ist er angekommen und fühlt sich wohl. Mit zwei Weiteren gründete er eine Wohngemeinschaft und lebt im Stadtzentrum. An manchen Tagen vermisst er in Deutschland das Pura-Vida-Lebensgefühl. „Wenn ich in Costa Rica bin, habe ich sofort ein Lächeln auf den Lippen. Das Wetter, die Natur, die ganze Atmosphäre sind schön.“
In Magdeburg geht er in den Rotehornpark, wenn er Raum zum entspannen sucht. „Ich vermisse zwar einiges aus Costa Rica, aber hier gibt es wieder andere Sachen, die ich dort nicht habe“, schätzt er gut ein. Natürlich vermisst er hier ebenso seine Familie. In San José wohnt Daniel mit seinen Eltern und seinen drei Brüdern zusammen. Familie wird in dem kleinen Land groß geschrieben. Die Kinder leben im Allgemeinen bis zur Heirat zuhause. Im März fliegt Daniel zu seiner Familie. „Mein älterer Bruder wird heiraten.“
Und welche Schlagwörter fallen „Schmidti“ ein, wenn er über die so verschiedenen Länder Costa Rica beziehungsweise Deutschland reflektiert? „Pura Vida, Strand, genießen“, auf der einen Seite, auf der anderen, „Entwicklung, Ordnung, Bier, Handball.“
Text: Franziska Herz (Volksstimme vom 6. Februar 2016)
Dieser Artikel wurde am 09.Februar 2016 von Tilman Treue veröffentlicht und wurde unter Aktuell abgelegt.